SWAROVSKI HARAM!

Die Steinigung der jungen Frau in Afghanistan geschah am Tage, als ich das Bild Ewa Finns zum ersten Mal gesehen habe.

Ewa ist ein geheimnisvolles, leises, blasses Wesen. Sie war nicht einfach zu finden. Kein Name auf dem Tableau. Keine Gegensprechanlage. Ein Gitter versperrt den Hinterhof. Mehrere Etagen Suche. Und dann der entscheidende Tipp: „die Frau wohnt unter mir, sie macht viel Lärm!”

Ewa gibt es zu, im Atelier ist es manchmal so kalt, dass nur laute Musik etwas Wärme spendet.

Und sie muss viel arbeiten. Ein Bild entsteht Monate lang. Manchmal ein Jahr. In akribischer Arbeit, Schicht für Schicht, Haar für Haar. Die Schichten der Bilder sind Bilder der Zeitlupe (nein, nicht das Gerät, dass ich zum Lesen der Wochenzeitung nutze).

Betrachten wir die Welt als ein Hologramm: jede Stelle des mehrdimensionalen Universums enthält die gesamte wesentliche Information über das Ganze. Dieses Modell, zuerst angewandt fürs Gehirn, beschreibt eine Kosmologie der anderen Art. Ein „Verschwinden” von ganzen Arealen im Gehirn wird wettgemacht, nicht nur durch Funktionsübernahme, sondern auch dadurch, dass alles in jedem Fragment enthalten ist. Auch die Kunst kann so begriffen werden, als eine holografische Sammlung. Phänomenologisch wird das ästhetische Erlebnis als ein intentionaler Akt der Ergänzung beschrieben: die „Stellen der Unbestimmtheit” im Kunstwerk werden „aufgefüllt” durch den Betrachter, das „ästhetische Subjekt” und so entsteht ein intentionales Dasein, das ästhetische Objekt. Eine extreme Variante solcher Theorie besagt, dass im ästhetischen Erlebnis ein Universum erschaffen wird, komplementär zu dem Universum „da draußen” (von der Existenz welches nicht mal Roman Ingarden zu Ende überzeugt war und den Nachweis dafür auf dem Umweg der Ästhetik suchte).

Für den Gebrauch dieses Abends: nehmen wir an, dass eine solche Theorie geeignet ist, Erlebnisse zu beschreiben, die beim Betrachten der Bilder von Ewa Finn vorkommen können.

Eva, Kain und Abel, die Gesteinigte – sie alle sind willige Opfer des monotheistischen, abrahamitischen, wahnsinnigen alten Herren. Der wohl nicht anders kann. Die Künstlerin wählt ihre Opfer ähnlich egalitär, wie der Alte und so wie Elias Canetti ist die Künstlerin dagegen: „jeder Tod ist ein Skandal”. Die Schwangere von Odessa hat keine Nationalität, sie wurde ermordet, von welcher Partei auch immer.

Diese traurigen Bilder, Ergebnisse von longue-durée-Prozessen des langwierigen Malens und Zeichnens, treiben ein besonderes Spiel mit der Zeit. Ein jedes Bild besteht aus sehr vielen aufeinander und nacheinander gemalten und doch „gleichzeitig” erfahrbaren Bildern. Sie beziehen sich auf ethische Theoreme, die jeden Tag anders angewendet werden können und jeweils situativ eine andere Lösungsdimension eröffnen.

Das Innerste von ICH ist unerreichbar, das Innerste der Welt, die Welt an sich, ist ebenfalls nicht erreichbar. Was kommuniziert, sind Peripherien.

Ein Zentrum der Kultur gibt es nicht. Möglicherweise gibt es das Zentrum nicht mehr, möglicherweise gab es das nie, nur war das keinem bewusst: mal war es ein Konsens, dass es ein Zentrum gibt: die Metropole des Imperiums, den Gott einer Religion, das philosophische Denken, die Physik, die Medizin, die Politik, die Informationstechnologie, was auch immer – heute wissen die, die immer noch Fragen stellen: das Zentrum gibt es nicht, weder diachronisch noch synchronisch, weder im Raum noch in der Hierarchie. Religion, Philosophie, Wissenschaft – sie alle gehören immer noch zu den Modellen, die uns die Welt erklären, zu verstehen helfen. Sie erweisen sich jedoch als zu starr, zu wenig wandelbar. Nur die Kunst, die sich nicht zu Ende kategorisieren lässt und gleichzeitig zwei widersprüchliche Aufgaben zu lösen trachtet: sie gibt keine endgültigen Antworten und sie gibt, zumindest manchmal, Antworten, die allumfassend und im holografischen Sinne ganz sind, nur die Kunst ist unfassbar genug, um den Sinn zu fassen.

Ein Kunstwerk kann die Welt erklären. Nicht direkt und nicht allein: weder drängt es in das Innerste der Welt, in die „Dinge an sich”, noch kann es mein Innerstes erreichen. Und doch, wenn ich dem Kunstwerk das größtmögliche Geschenk mache: Ich schenke ihm mein Glauben, kann es mir auch ermöglichen, mehrdimensionale Struktur des Universums zu ergründen. Es kennt sie nicht und ich kenne sie nicht, wir beide zusammen, für einen Augenblick, vielleicht doch.

Auf dem Bild geschieht das, was der Betrachter will: sein Wissen, seine Angst, seine Sehnsucht wird gebraucht, um die Wirklichkeit, die hinter dem Bild steht, aufzubauen, sie zu etablieren. Eine jede ist anders. Gefächerte Universen der Malerin, die jeden Tag aufs Neue die Realität des Bildes und die hinter dem Bild zum Leben erweckt, mögen einander ähneln, sie sind trotzdem autonom, ermöglichen jeweils unzählige Ergänzungen im jeweiligen Akt des ästhetischen Erlebnisses.

Es fallen Steine. Swarovskisteine der Sterne. Unendlich viele. Sie töten mich. In einem Augenblick, aber noch nicht jetzt. Gerechte Leute haben mich im Namen des alten zornigen Gottes in der Erde vergraben. Es war schon lange her. Universen vergehen. Die Erde dreht sich. Dieses blasse Wesen kitzelt mich mit ihrem wie ein Haar dünnen Pinsel. Monate vergehen, ich wurde noch von keinem Stein getroffen. Mir ist warm, meine Gesichtszüge ändern sich vom Monat zu Monat, doch bin ich ruhig und mit meinem Schicksal einverstanden: ich habe mich doch von den Männern vergewaltigen lassen, also bin ich unrein, schuldig, haram, ich verdiene den grausamen Tod. Ob ich milde lächele? Mag sein, ich leide unter dieser höllisch lauten Musik.

Mit dem Kopf des eigenen Opfers Ball spielen. Das Gesicht einer Leiche als Visagist zu schmücken: zwei unterschiedliche Tätigkeiten, die jedoch aus der Sicht des Toten ähnlichen Wert haben. Durch das Zeiteinfrieren der Gesteinigten vor ihrem Tod leistet die Malerin einen lebensrettenden Dienst. Das Zeit-Einfrieren des Kopfballs ist eine nimmerendenwollende Anklage.

Auch ist die Kunst ein Spiel; die Kunst des Spiels mit dem Betrachter beherrscht die Herrin des Pinsels herrlich: wir denken uns die Schlange des schönen Mannes zu Ende, das andere Ende der Affenleine, den Schuss des Erschießungskommandos, das furchtbare Geräusch des Tritts gegen den abgetrennten Kopf, das Ziehen der Zähne aus den Leichenschädeln, die Aufschrift auf der Dose, das arische Gesicht des Hugo-Boss-Uniformträgers. Das alles wurde nicht gemalt, nicht gezeichnet, vielleicht geschah das auch gar nicht? Sie fragt zwar nicht, doch sie weiß, dass die Explizität der Bilder die Zweifel der notorischen Skeptiker nicht beseitigen würde. Glaubt, was ihr wollt, das Wissen alleine reicht euch ja nicht.

Von Kain und Abel sehen wir nur Beine: sind das noch Geh-Beine oder schon nur Gebeine? In dieser Zeichnung treibt Ewa Finn ihr phänomenologisches Spiel bis zum Äußersten: als Betrachter soll ich mir die Geschichte denken. Die Eifersucht, die Tat, das Opfer und den wirklichen Schurken, der das ganze Malheur auf seinem reinen Gewissen hat. Von dem Fußballspieler, der den Kopf seines Opfers in den Himmel tritt, wollen wir nichts sehen, genauso wenig wie von den Opfern, welchen die goldenen Zähne entfernt wurden, von dem Sadisten, der den Affen quält, von den zu Erschießenden. Schont sie oder zwingt sie uns zu Albträumen? Dieses Ergänzen, zu „Ende” denken, Konsequenzen eigener Unterlassung, eigener Gleichgültigkeit, eigener Bequemlichkeit zu bedenken, ist nicht angenehm, es ist grausam und traurig, es tut weh und entlässt nicht mit einer Absolution wieder in den Alltag, der – ja, der eben diese Konflikte in sich trägt, manchmal besser, manchmal schlechter getarnt als auf diesen Bildern.

Piotr Olszówka, in Berlin am 28.11.2015